Deutsch-jüdische Gespräche (1): Birgit Müller-Wieland und Robert Schindel

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"Angelus Novus" (Paul Klee)

Zur Reihe: Zeit wahrzunehmen, zuzuhören und zu erwidern – So könnte ein deutsch-jüdisches Gespräch aussehen, das es laut Gershom Scholem bislang noch gar nicht gibt: „Ich bestreite, daß es ein solches deutsch-jüdisches Gespräch in irgendeinem echten Sinne als historisches Phänomen je gegeben hat. Zu einem Gespräch gehören zwei, die aufeinander hören, die bereit sind, den anderen in dem was er ist und darstellt, wahrzunehmen und ihm zu erwidern.“ (Scholem, Judaica)

Angesichts eines zunehmend aufgeheizten und toxischen Kommunikationsklimas möchten wir hier einen Raum der deutsch-jüdischen Gespräche eröffnen. Denn Literatur ist immer auch ein Verhandeln und Transformieren von Wirklichkeiten und Möglichkeiten; ein Im-Gespräch-stehen. Wir laden ein zum Zuhören und zum Erwidern; zu einem Austausch zwischen deutschsprachigen jüdischen und nichtjüdischen Schreibenden und Kunstschaffenden über alles, worüber sie jeweils miteinander reden mögen.

Das erste Gespräch führten die Autorin Birgit Müller-Wieland und der Schriftsteller Robert Schindel.

*

BIRGIT MÜLLER-WIELAND: Am 23. Oktober, etwas mehr als zwei Wochen nach dem Terror-Angriff der Hamas auf Israel, fand im Jüdischen Gemeindezentrum in München eine Buchvorstellung statt. Lange vor den Ereignissen geplant, kam der Präsentation der Anthologie Israel. Was geht mich das an? eine unvorhergesehene Dramatik zu. Das Entsetzen und die umfassende Ratlosigkeit im vollbesetzten Saal ließ alle bedrückt zurück. Noch ganz im Eindruck dessen führte ich einige Zeit später, bei meinem Besuch in Wien, ein Gespräch mit Robert Schindel, einem der Protagonisten dieses Münchener Abends ...

Lieber Robert, wir treffen uns hier in Wien an einem 9. November ...

ROBERT SCHINDEL: Nun, noch ist nichts passiert. Naja, ist ja Vormittag. Bis zum Abend haben wir Zeit.

MÜLLER-WIELAND: Bitte nicht ...!

SCHINDEL: Na, dann fangen wir jetzt an.

MÜLLER-WIELAND: In der Anthologie, die in München vorgestellt wurde, ist auch Ahmed Mansour vertreten, der sehr eindrücklich seine Herkunft als muslimischer Israeli beschreibt, die zugleich – aber nicht nur – von Judenhass geprägt war. Beispielsweise wurde er 18 Jahre im Unklaren über die Täter gelassen, die seinen Großvater, einen Tankstellenbesitzer, ermordeten, als er ein Jahr alt war. Nicht Juden, wie er immer glaubte, hatten das getan, sondern zwei Araber aus dem Nachbardorf. Gleichzeitig veranschaulicht sein Bericht die Trauer von arabischen Israelis nach dem Mord an Jitzchak Rabin durch einen rechtsextremen Juden, der die Aussöhnung mit den Palästinensern verhindern wollte. Ahmed Mansours Beitrag zeigt die Widersprüchlichkeit, in der sich ein Teil der Israelis befindet, er betont aber auch, dass es ein ganz normales, nachbarschaftliches Zusammenleben aller Gruppen gibt. Meine Frage nun: Kennst Du arabische Israelis?

SCHINDEL: Nein, leider nicht. Lange Zeit haben die arabischen Israelis, soweit ich weiß, sich auf die Seite diverser arabischer Brüder geschlagen, aber waren insgeheim froh, dass sie nicht in diesen Ländern leben, weil es in Israel einen weitaus höheren Lebensstandard und grundsätzliche Freiheiten gibt.

MÜLLER-WIELAND: Das schreibt Ahmed Mansour auch: „Trotz all der negativen Aspekte werden sich kaum arabische Israelis finden, die bereit wären, in einem arabischen Staat zu leben.“

SCHINDEL: Aber man darf eben auch nicht vergessen, dass arabische Israelis, sofern sie sich eindeutig zu Israel bekennen, in Gefahr kommen, auch in Lebensgefahr. Anschläge auf „Verräter“ kann es immer geben. Diese Gruppe profitiert, denke ich, von der israelischen Demokratie – auch wenn diese, wie jede Demokratie, ihre Mängel hat. Beispielsweise brauchen sie nicht zum Militär zu gehen, was für viele zwar eine Ungerechtigkeit ist, andrerseits ist es auch wiederum angenehm, drei bzw. zwei Jahre seines jugendlichen Lebens nicht dem Staat widmen zu müssen. Man darf auch jetzt nicht außer Acht lassen, dass Saudi-Arabien, Katar und Israel einander angenähert haben, wirtschaftliche Abkommen vereinbaren wollten. Der Hamas ist gelungen, dass das nun nicht verwirklicht wird. Saudi-Arabien und Katar demonstrieren jetzt, nach dem Angriff, ihre Solidarität mit der Hamas – eine zwiespältige Reaktion, denn wie soll man sich sonst die vorherigen Absprachen erklären.

MÜLLER-WIELAND: Wie kann für Dich ein möglicher Ausweg aussehen?

SCHINDEL: Leider habe ich meine Zukunftsbrille nicht mit, außerdem ist sie verschmutzt ... Im Ernst: Es kann alles passieren. Es kann sich ausweiten. Aber, soweit ich bisher weiß, wollen die großen Länder keinen Krieg auf ihrem Territorium, auch die Hisbollah, die sich ja immer großmäulig gebärdet, hat sich bisher mit gröberen Militäraktionen zurückgehalten. Das hat vermutlich mit innerarabischen Konflikten zu tun, auch damit, dass die Hisbollah – sollte sie Israel unterliegen, wenn sie vom Norden her agiert – ihre Machtbasis im Libanon verlieren würde. Ich finde auch wichtig, dass die USA Flugzeugträger im Mittelmeer stationiert haben, sämtlichen Ländern um Israel herum zur Warnung. Ich glaube, alle bemühen sich, das Ganze irgendwie im Zaum zu halten. Gleichzeitig ist der Konflikt so geartet, dass man nicht vorhersehen kann, ob nicht doch alles aus dem Ruder läuft, um es mit der Schiffssprache zu sagen. Und dann: Dieses Pogrom vom 7. Oktober '23 ist das größte seit dem Zweiten Weltkrieg. Die israelische Regierung hat sich insofern schuldig gemacht, weil sie einen Teil der Truppen für den Schutz der Grenze zu Gaza fürs Westjordanland abgezogen hat. Und wenn die Siedler hier beginnen, willkürlich palästinensische Menschen umzubringen, dann zeigt das leider die Mentalität einer bestimmten Siedlergeneration. Aber damit ich nicht missverstanden werde: Man darf wegen der Siedler keine Täter-Opfer-Umkehr machen. Die Hamas hat all dies provoziert. Und weil man immer über die Zivilbevölkerung spricht – Erstens: Ich möchte daran erinnern, dass 60 Prozent damals im Gazastreifen die Hamas gewählt haben. Zweitens: Im Zweiten Weltkrieg haben die Alliierten die deutschen Städte bombardiert, mit gutem Grund, denn nur so konnten sie den Krieg gegen Hitlerdeutschland gewinnen. Wie hätten sie es machen sollen, dass sie keine Zivilbevölkerung treffen? Das heißt, Kriege bedeuten leider Tod von Menschen. Und wenn Israel versucht, die Menschen in Gaza irgendwie zu schützen, und auffordert, in den Süden zu fliehen, kommt der Vorwurf, es gebe dort keine Infrastruktur. Aber ist das die Schuld von Israel? Kann es was dafür, dass es überfallen wurde? Diese stetig ansteigende Täter-Opfer-Umkehr, die man ab dem 7. Oktober '23 weltweit spüren kann, führt dazu, dass sich der Judenhass, auch der womöglich vor sich selbst verdeckte Judenhass, wieder ausweitet. Bis zu dem Punkt: Die Juden sind selbst schuld. Und am besten wäre es gewesen, sie hätten Israel gar nicht gegründet. Dann hätte man sie in der Diaspora verfolgen können – und nicht jetzt unter so schweren Opfern.

© Birgit Müller-Wieland

MÜLLER-WIELAND: Nach der Unfassbarkeit des Massakers vom 7. Oktober '23 ist mir der weltweite Antisemitismus, den dieses ausgelöst hat, unbegreiflich. Gerade in den USA, wo die größte jüdische Bevölkerungsgruppe außerhalb Israels beheimatet ist, erreichen uns die Nachrichten von Elite-Unis mit antisemitischen Aktionen. Wie ist das zu erklären?

SCHINDEL: Aber das alles gibt es doch schon lang. Federführend ist eine gewisse Judith Butler ...

MÜLLER-WIELAND: ... selbst Jüdin ...

SCHINDEL: Jaja, früher haben wir immer gesagt: Selbsthass. Natürlich gibt es jüdische Antisemiten oder Juden und Jüdinnen, die mit ihresgleichen nichts zu tun haben wollen oder sich ihr Judentum so zurechtzimmern, dass es in den Mainstream der anderen passt. Es wird einem schaurig zumute, dass gegenwärtig ausgerechnet die ausgeflippten Republikaner zu den Verbündeten Israels gehören. Bei den extremen Rechten ist der Hass auf die Araber noch viel größer, das heißt, sie nehmen die Juden in Kauf, denn diese gehören ja irgendwie zur westlichen Zivilisation.

MÜLLER-WIELAND: In deinem Anthologie-Beitrag „Die dritte Liebe“, in der Du Deine verschiedenen Phasen der Zuneigung zu Ländern schilderst – zur Sowjetunion als Kind und Jugendlicher, zu China als junger Erwachsener und schließlich zu Israel – beschreibst Du jenen Moment, in dem Du – damals noch Antizionist – erstmals israelischen Boden betreten hast. Du wolltest nie nach Israel reisen, wurdest aber schließlich vom damaligen österreichischen Unterrichtsminister Scholten eingeladen, an einer Delegation teilzunehmen ...

SCHINDEL: Ja, das hat sich unbewusst schon länger vorbereitet. Ich hatte einige jüdische Freunde, die meinen linken Antizionismus argumentativ zurückgedrängt haben, darunter war der verstorbene Maler Georg Chaimowitz. Es war also der Tisch in mir schon angerichtet, dass ich so einen Schwenk mache – es musste nur noch der Kellner mit dem Essen hereinkommen. Und das war dann die Israel-Reise 1993, wo ich zuerst noch gesagt habe, räumt‘s die Palmen weg da, die sind doch albern. Aber nach dieser Reise habe ich mich intensiv mit allem auseinandergesetzt, was den Zionismus anbelangt, die Kämpfe, Strömungen, die Geschichte, und bin zu dem Schluss gekommen, dass es noch einige Zeit einen jüdischen Staat geben muss, in dem die jüdische Bevölkerung nicht in die Minorität geraten darf. Man kann nicht in die Zukunft schauen, aber ich denke, dass wird noch mehrere Generationen sein müssen, obwohl ich auf Zeiten hoffe, in denen weder Juden noch Armenier und andere Volksgruppen um ihr Leben fürchten müssen, wenn sie irgendwo Minderheiten sind. Also, wenn der Planet friedfertiger geworden ist – man wird ja wohl noch träumen dürfen. Dann wird auch die Notwendigkeit eines reinen Judenstaates nicht mehr gegeben sein.

MÜLLER-WIELAND: Es ist mir peinlich, das sagen zu müssen, aber im Zuge der aktuellen Ereignisse wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass es global muslimische, hinduistische, buddhistisch orientierte Staaten gibt, christliche sowieso in allen Varianten – Länder also, in denen es kulturelle und religiöse Übereinkünfte für eine Majorität gibt, Schutz für diese Lebensweisen. Aber für die jüdischen Menschen existiert nur dieser eine winzige Streifen Land. An diesem entzündet sich seit 75 Jahren der Kampf. So betrachtet, wird Antisemitismus noch grotesker.

SCHINDEL: Weil die Juden „Gottes erste Liebe“ waren, und die Christen sich vom Judentum emanzipieren mussten, ist der religiös motivierte Antijudaismus ins Volk eingesickert. Über 1.500 Jahre hat sich dieser unter der Oberfläche wie ein Vulkan ausgebreitet, blubbt mal hier, mal da auf, ein kontinuierlicher Vorgang, zu dem dann der sogenannte Rassen-Antisemitismus dazukam, also, unabhängig, ob man jüdisch-religiös war oder nicht, man war qua Abstammung jüdisch, also minderwertiges Menschenmaterial. Und seit Mitte des 19. Jahrhunderts hat sich das immer mehr verstärkt.

MÜLLER-WIELAND: Leider war die Aufklärung antisemitisch grundiert ...

SCHINDEL: Ja, und bekanntlich hat der Antisemitismus einen großen Erfolg durch Hitler erzielen können und das ist einer der Hauptgründe, dass ich für Israel als einen jüdischen Staat eintrete. Es gibt ja auch Ideen, Israel als einen Staat anzusehen, in dem Juden, Muslime und Christen gleichberechtigt zusammenleben. Meiner Meinung nach muss jedoch die Majorität der jüdischen Bevölkerung gewährleistet sein, sonst hätte Israel keinen Sinn. Deswegen muss man verstehen, dass dieses Land keine lupenreine Demokratie sein kann. Es ist eine eingeschränkte Demokratie, in der die Majorität der Juden garantiert ist. Vielleicht wird das in ferner Zukunft nicht mehr notwendig sein ...

MÜLLER-WIELAND: ... eine Utopie ... Was mich so schockiert, ist, dass es nach dem Zivilisationsbruch des Dritten Reichs seit längerem und nun verstärkt wieder möglich ist, Wohnungen mit Sternen zu markieren. Dass jüdische Männer sich nicht trauen, ihre Kippa öffentlich zu tragen, Kinder nicht in jüdische Schulen und Kindergärten gehen können, dass jüdische Menschen sich nirgends mehr sicher fühlen – und dass dies ein weltweites Phänomen ist. 

SCHINDEL: Na, weil es historisch gewachsen ist. Es ist alt und tief verankert. Es gibt vermutlich sehr, sehr viele Menschen, in deren Innerstem eine tiefe Abneigung gegen Juden schlummert, die sie gar nicht bemerken, weil sie mit dem Kopf und dem Herzen längst anders denken. Von den Eltern und Großeltern kommt ja etwas mit ... Ein Beispiel für die Wichtigkeit eines Staates ist ja gegenwärtig die Situation mit Aserbaidschan und Armenien. Die armenischen Menschen können jetzt dorthin flüchten, auch wenn Armenien selbst ein sehr armes Land ist und total überfordert, aber zumindest können sie irgendwohin. Die Staatsgründung Israels hat schon einen guten Grund gehabt.

MÜLLER-WIELAND: Mich beschäftigt auch das Phänomen Judith Butler ...

SCHINDEL: Das kann ich nicht erklären. Ich kann nur eine historische Parallele zu den 20er- und 30er-Jahren ziehen, als diejenigen, die in der kommunistischen Bewegung als sogenannte Renegaten angesehen wurden, später die schärfsten Kritiker und Antikommunisten geworden sind. Sie mussten also in größtmöglicher Deutlichkeit ihre Trennung beweisen. Aber soweit ich informiert bin, steht Judith Butler noch zu ihrem Judentum ...

MÜLLER-WIELAND: Ja eben ...

SCHINDEL: Wirklich erklären kann ich es nicht. Es ist nur so, dass jüdische Menschen Aufmerksamkeit bekommen, wenn sie sich antizionistisch positionieren. Aber das war ja auch bei Hannah Arendt schon ein Problem, die dann später noch „die Kurve gekratzt hat“.

MÜLLER-WIELAND: Würdest Du sagen, dass der Antisemitismus über so viele Jahrhunderte quasi epigenetisch geworden ist?

SCHINDEL: Na, etwas historisch Gewachsenes. Epigenetisch würde bedeuten ...

MÜLLER-WIELAND: ... dass man nichts dafür kann, weil es sozusagen „vererbt“ ist.

SCHINDEL: Es ist ein historisch lang und gut gewachsenes gesellschaftliches Phänomen. Man müsste wieder einmal den Mann Moses von Sigmund Freud lesen ... Es beginnt ja mit dem Monotheismus, und wenn zwei Völker um die Gunst dieses einen einzigen Gottes kämpfen, beinhält dies per se schon viel Munition. In den Augen der Juden hat das Christentum in der Gestalt von Jesus eine Vergötzung durchgeführt. Also: eine Vermenschlichung, was ja einerseits auch gut ist – dass es eine Religion der Liebe geben soll. Diese Religion der Liebe wiederum hat aber auch die Scheiterhaufen aufgebaut und in Bewegung gehalten – also in all dem liegen die Urquellen der Konflikte und des Judenhasses. Da fällt mir ein: Ich hatte einmal eine schöne Fehlleistung. Es gab ein Buch übers Judentum von Friedrich Heer, das ich mir in der Buchhandlung besorgen wollte, ich verlangte Gottes letzte Liebe ...

Beide lachen.

© Christof Decker

MÜLLER-WIELAND: Ich wollte noch einmal auf den linken Antisemitismus zurückkommen, weil Du ja selbst damit Erfahrungen gemacht hast. Ich finde die Episode sehr eindrücklich, die Du schon mehrmals erzählt hast, in der Du in Wien zur Feier des 30. Jahrestages der Israelgründung gegangen bist, um zu stören.

SCHINDEL: Wir wollten den israelischen Botschafter mit Paradeisern, also Paradiesäpfeln! – und Eiern bewerfen.

MÜLLER-WIELAND: Du warst früher da und einige Menschen haben sich gefreut, Dich zu sehen.

SCHINDEL: Die Mutter meiner Ex-Freundin zum Beispiel: „Ja, Robert, wie ich mich freu, Du warst ja immer so dagegen, nimm Platz“ ... Es war so peinlich und so schmerzlich ...

MÜLLER-WIELAND: Du bist dann vor Ankunft des Botschafters gegangen.

SCHINDEL: Ja, wie gesagt, da war der Tisch schon bereitet … Ich bin dann auch aus der Organisation ausgetreten, der ich damals angehört habe, den Maoisten, habe aber nicht gesagt, dass es deswegen war, weil sie im Kern antisemitisch dachten. Es war ein gewisser Weg, denn ich kam ja aus einem kommunistischen Haus – und die Sowjetunion und ihr Verhältnis zum Judentum spielten da natürlich auch eine Rolle. Und dann war da noch mein Aussehen. Die Wiener Bevölkerung, die noch die große jüdische Gemeinde vor dem Krieg vor Augen gehabt hat, hat mich mit traumwandlerischer Sicherheit als Juden erkannt. Ab und zu wurde ich als „alter Hebräer“ bezeichnet, mehr gestimmt hätte „junger Hebräer“ ... Das hat mich sehr früh in diese Debatte hineingeworfen. Auch auf der Jesuitenwiese beim Fußballspielen war ich „der Jude“. Man hätte mich auch als Südfranzosen oder Algerier oder Griechen identifizieren können. Mit meiner Mutter hatte ich keine hilfreiche Person an der Seite, weil sie als Kommunistin die Position der Partei vertreten hat, die die Überwindung des Kapitalismus als Ziel anstrebte und nicht den Aufbau eines Staates, in dem man vor Verfolgung sicher ist. Das hat immer wieder zu Differenzen zwischen uns geführt. Sie hat sich bis zu ihrem Lebensende geweigert nach Israel zu fahren. Aber sie hat mir zugehört, wenn ich davon erzählt habe, und mir nicht dreingeredet.

Lacht.

MÜLLER-WIELAND: Zum Abschluss nun: Die aktuellen Ereignisse werden in Israel alles verändern, denke ich. Es wird nichts mehr so sein wie zuvor. Es wird für Gaza und das Westjordanland eine Lösung geben müssen, wie immer die auch aussehen wird ...

SCHINDEL: Das Versagen der israelischen Regierung – so wie damals beim Jom-Kippur-Krieg – wird Folgen haben, gravierende Folgen. Und ein Hauptproblem sehe ich darin, dass es keine palästinensische Führung gibt, mit der man ein sicheres Friedensabkommen verhandeln könnte, die das eine Woche überleben würde. Und auch die rechtsextremen Juden ... Ich glaube, es muss ein sehr langsamer Prozess sein, damit es ein weiteres Zusammenleben geben kann, mit immer mehr Autonomie, immer mehr Rechten für einen palästinensischen Staat, mit einem vollkommen anderen Bildungssystem, das die Kinder nicht von Anfang an zum Judenhass motiviert usw. Aber auch in dem Bewusstsein, dass das jederzeit zurückgenommen werden kann im Moment, wo wieder Anschläge zugelassen werden. Man muss den Frieden dekretieren und gleichzeitig mit Leben füllen! Es ist nicht unmöglich! Denk doch nur an den Westfälischen Frieden! Nach dreißig Jahren war klar: Bald ist niemand mehr da zum Kämpfen und zum Umgebracht-werden. Es gibt nur mehr eine Lösung: Frieden. Schau, wer hätte jemals gedacht, dass Israel mit dem scheußlichen Saudi-Arabien und dem fürchterlichen Katar – Frauenunterdrücker und Menschenrechtsverletzer sondergleichen – eine Annäherung vollziehen würde? Deswegen ist die Hamas ja aktiv geworden in dieser schrecklichen Weise – aber: Es könnte ja auch eine Fortsetzung des vorher eingeschlagenen Weges geben. Es braucht mutige Politiker und Politikerinnen auf allen Seiten, die durchhalten – ich mit meinen fast 80 Jahren werde es nicht mehr erleben, aber Du vielleicht.

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