Rationaltheater

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Rainer Uthoff, Jochen Busse 1967; Foto: Felicitas Timpe

Am 28. Januar 1965 eröffnet der junge Volkswirt Reiner Uthoff in Schwabing, in der Hohenzollernstraße, das Münchner Rationaltheater. Mitgründer sind der Germanistikstudent Ekkehard Kühn, bei der Studentenbühne Die Knallfrösche federführend aktiv, und der Schauspieler Horst A. Reichel, in dessen Theater 44 das Rationaltheater zunächst beheimatet ist.

Die Gründung findet statt in bewegten Zeiten, knapp drei Jahre nach den Schwabinger Krawallen. An Fronleichnam 1962 war ums Eck in der Leopoldstraße eine Polizeiaktion gegen Straßenmusiker eskaliert, mit tagelangen Straßenschlachten zwischen teilweise überreagierenden Polizisten und tausenden randalierenden Münchnern.

1976 zieht Uthoff nach Altschwabing in die Hesseloherstraße 18 unweit der Lach- und Schießgesellschaft – bis heute der Standort des Rationaltheaters.

Uthoff inszeniert im Rationaltheater über 30 Programme, gemeinsam mit späteren Kabarettgrößen wie Sigi Zimmerschied, Bruno Jonas und Jochen Busse. Zu den Co-Autoren zählen zeitweise auch bekannte Kulturschaffende wie der Enthüllungsjournalist Günter Wallraff und der Schriftsteller Martin Walser sowie Gerhard Polts langjähriger Co-Autor, der Regisseur Hanns Christian Müller.

Im Gegensatz zur benachbarten, wesentlich bekannteren Lach- und Schießgesellschaft kommt dem Rationaltheater kaum mainstreamtaugliche TV-Präsenz zu. Während im „Laden“ vor allem Tagespolitik zur Sprache kommt, wird im Rationaltheater kompromisslos und unverbrämt Systemkritik geübt. Außerdem verharren Uthoff und seine Mitstreiter nicht auf der Bühne, sie betätigen sich als Aktivisten. Unter dem Motto „Klau-in“ ruft Uthoff dazu auf, in einem Kaufhaus am Stachus Weihnachtsgeschenke für die Kinder von Inhaftierten zu stehlen. Mit dem Programm „Knast“ tourt Uthoff 1969 durch deutsche Justizvollzugsanstalten, so mancher attestiert ihm einen Anteil an der Verwirklichung der Strafvollzugsreform im Zuge dessen. Mit dem kontrovers aufgenommenen, kirchenkritischen Programm „Tatort Vatikan“, einem Stück über das Finanzgebaren des Vatikans Ende der 1980er-Jahre, will Regisseur Reiner Uthoff 50.000 Kirchenaustritte erreichen.

Die Polizei verfolgt uns nicht.
es interessiert sich kein Gericht
für uns und unser Treiben.
Man sieht uns nicht, man hört uns nicht,
wir haben immer grünes Licht
und undurchsichtige Scheiben.

(Quelle: Budzinski, Klaus [1982]: Pfeffer im Getriebe. Ein Streifzug durch 100 Jahre Kabarett. München.)

Anders als die von Uthoff und seinen Mitstreitern persiflierten Großindustriellen bleibt das provokative Agieren des Rationaltheaters nicht ungeahndet. Laut dessen Internetpräsenz gibt es insgesamt „61 Strafverfahren wegen Gotteslästerung, Beschimpfung des Staatsoberhauptes und anderer Delikte zur Folge, die heute in keinem deutschen Gesetzbuch mehr zu finden sind“. Durch die zahlreichen Ermittlungen der Staatsanwaltschaft und vor allem der auch im Schaufenster des Rationaltheaters präsentierten Nazi-Vorwürfe gegen den damaligen Bundespräsidenten Heinrich Lübke bringt es das Rationaltheater zeitweise zu bundesweiter Bekanntheit. Politiker und Publizisten wie Herbert Wehner, Willy Brandt, Rudolf Augstein und Günter Grass verewigen sich im Gästebuch.

Anfang der 1990er-Jahre verlassen Reiner und Sylvia Uthoff das Rationaltheater. Nach einem Jahrzehnt Stillstand belebt ab 2006 ihr Sohn, der heute erfolgreiche Kabarettist Max Uthoff, das Rationaltheater wieder. Max Uthoff hat bereits als Jugendlicher in der Bühnentechnik und im Service mitgeholfen und mit dem Vater im Ensemble gespielt. Er reüssiert ebendort als Solokabarettist, feiert 2007 die Premiere seines ersten Programms „Sie befinden sich hier“.

Im Herbst  2008 übernimmt der Filmemacher Dietmar Höss das Theater, das sich heute vor allem der Nachwuchsförderung verschrieben hat, anstatt Kabarett stehen überwiegend Theater, Lesungen, Filme und Konzerte auf dem Programm.

Verfasst von: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek / Thomas Steierer