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03.05.2024, 10:00 Uhr
Amadé Esperer
Text & Debatte
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Amadé Esperer (c) privat

Jehuda Amichai. Der deutsch-jüdische Dichter des poetischen Existenzialismus

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Jehuda Amichai (c) Rosa Grimm

Heute, vor genau 100 Jahren, wurde Jehuda Amichai (1924-2000) in Würzburg geboren. Er gilt als einer der meistgelesenen und bedeutendsten israelischen Dichter, war einer der ersten, die in umgangssprachlichem Hebräisch schrieben, und wurde mehrfach für den Literaturnobelpreis nominiert. Der Übersetzer, Autor und Herausgeber Amadé Esperer, der Amichais Spätwerk übersetzt hat, gibt einen Überblick über den Dichter. 

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Jehuda Amichai (1924-2000), der am 3. Mai 1924 als Ludwig Otto Jehuda Pfeuffer in Würzburg in ein orthodox jüdisches Elternhaus geboren wurde, legte eine steile Dichterkarriere hin. Allerdings nicht in Deutschland, sondern in Israel. Dass dieser Ludwig aus der Diaspora als Jehuda Amichai zu einem mit Preisen überhäuften bedeutenden Exponenten der modernen hebräischen Dichtung weit über die Grenzen Israels hinaus bekannt wurde, ist eine imposante Geschichte. Sie hat in erster Linie mit Amichais Sprachtalent und literarischer Begabung, die sich schon früh zeigte, zu tun. Aber auch mit außergewöhnlichen Umständen. Am Anfang stand der Schock: Jäh wurde Ludwig 1936 aus seiner behüteten Würzburger Kindheit gerissen, als er mit der Familie in die Emigration gezwungen wurde. Doch es war auch ein Glück, dass er erst 12 Jahre war, als er im Jishuv ankam. Anders als etwa Arnold Zweig oder Else Lasker-Schüler, die massiv unter dem Verlust ihres deutschen Sprach- und Kulturraums litten, hatte er keine Probleme, Hebräisch wie eine zweite Muttersprache zu lernen [1,5]. Der früh (1942 u. 1948) als Soldat in der elitären Palmach Bewährte, war überzeugter Zionist und nahm in Haifa, wo er 12 Jahre zuvor Eretz Israel erstmals betreten hatte, in seiner ersten Stellung als Volksschullehrer den Namen Amichai, „Mein Volk lebt“ an. Später hatte er das große Glück, an der Hebräischen Universität in Jerusalem während des Zweitstudiums bei Lea Goldberg zu studieren. Sie war damals die unbestrittene Grande Dame der israelischen Literatur. Wer wie Amichai zum Kreis ihrer Adepten gehörte, den förderte sie nach Kräften. Sie hatte Einfluss, saß in den Editorial Boards wichtiger Zeitschriften und schrieb günstige Rezensionen für ihre Schützlinge [5]. Günstig für Amichais Dichterkarriere war auch, dass sein Flirt mit der stalinistischen Linie von Hashomer Hatzair, dem sich sein lobhudelndes „Sonett“ auf Stalin verdankt, nicht allzu lange währte, und er bei der Arbeiterpartei eine politische Heimat fand, die damals den Kulturbetrieb dominierte [8]. Gut war auch, dass er sich 1952 Likrat anschloss: jener Gruppe junger Dichter, die unter Benjamin Harshav aus Wilna und Nathan Zach aus Berlin zu einer normativen Instanz für die junge israelische Literatur wurde, vergleichbar etwa der Gruppe 47 in der Bundesrepublik. Zach schwor die Likrat-Dichter, die sich als „post-traumatische Antwort“ auf den 1948er-Krieg verstanden, auf die westeuropäische Moderne ein [7]. Hier lernte Amichai so zu schreiben, dass seine Gedichte mühelos den Spagat zwischen pathosfreiem, national-israelischem Ton und universeller Weltoffenheit schafften [7,8].

Obwohl Amichai sich rasch in die neue Gesellschaft einfügte und er in den Augen der Alteingesessenen sogar Tzabar-Status erlangte, verlief der innere Prozess der Akkulturation auch bei ihm nicht ohne Schmerz und Selbstzweifel [1]. In Interviews sprach er oft von seiner doppelten Identität, seinen zwei Seelen [7]. Die aus dem frühen Heimatverlust resultierende innere Ortlosigkeit zieht sich denn auch als Leitmotiv durch seine gesamte Lyrik, wie im folgenden Gedicht [2]:

Dies ist die Geschichte vom Staub: Zwischen meinem morgendlichen Weggang
und meiner Rückkehr am Abend geschieht die Hälfte dessen, was geschehen wird,
und in meinem Schlaf die andere Hälfte. Alles ohne mich.

In meiner Jackentasche liegen die Schlüssel von Häusern, die gegangen sind,
in meiner Börse die Marken für Briefe, die ich nicht mehr verschicken muss.

Dies ist die Geschichte vom Staub,
der den Felsen vergessen hat, von dem er kam,
Trauer und Freude, einst flüssige Maße,
sind nun Trockenmaße.
Die Frucht am Baum macht Platz für neue Frucht
ohne Testament und ohne Bedauern: Ja sogar eine fröhliche Ernte
hat ein ruhiges Ende, nicht nur Tränen.

[...]

Für Amichai blieb die deutsche Sprache, die er zeitlebens mit den Eltern sprach, eine Art heimatliche Insel im Exil. Frühe, unveröffentlichte Gedichte schrieb er auf Deutsch und auch später skizzierte er oft auf Deutsch, wenn es um Liebe ging, denn Deutsch war für ihn die „Sprache der Seele und der Gefühle“. Dass diese, zwischen zwei Kulturen oszillierende „Zwitteridentität“ [6] mit erheblichen seelischen Qualen einherging, wird in Amichais Lyrik nirgendwo so deutlich wie in dem folgenden, 1960 veröffentlichten Gedicht [3]:

Ich schreibe von rechts nach links und sehne mich von links nach rechts.
Scharfer Schmerz kommt von oben und unten.
Im Osten geht für mich die Sonne auf, das Meer im Westen unter,
mit einem Atem, größer als der Atem meines Lebens, wehen die Winde
aus allen Richtungen. Dort ist es Tag, Nacht ist es hier.
Meine Zeit geht der Zeit von dort voraus oder hinkt ihr hinterher
wie auf der Zeichnung der verfolgten Verfolger auf der griechischen Vase.
Ich schreibe von rechts nach links, meine Stirn ist verbrannt,
wie das Stroh auf dem Feld sind meine Augen blass,
wie jene liebe ich das Leben unter Bäumen, an sprudelnden Flüssen.
In den harten, quadratischen Wörtern meiner Sprache aber
muss ich meine Qualen beschreiben und die Liebe schildern,
die ich trotz allem von den Ahnen ererbte, die vor langer Zeit
von weither gekommen waren.

Das Gedicht ist im Grund ein Preislied auf die Diaspora und kann als Kritik an der damaligen israelischen Kulturpolitik gelesen werden, die nicht nur Deutsch, sondern auch das Bekenntnis zur Diaspora unterdrückte. Amichai war bis zuletzt gut in seiner Muttersprache zu Hause, rezipierte nicht nur deutschsprachige Literatur, z.B. Kafka, sondern übersetzte auch aus dem Deutschen, etwa die von ihm sehr verehrte Else Lasker-Schüler. Er blieb aber nicht in der Kindheitserinnerung stecken. In dem 1963 erschienenen Nicht von jetzt, nicht von hier schrieb er sich frei von der Last dieser Erinnerung [5]. Mit dem Werk gelang ihm nicht nur der erste postmoderne hebräische Roman, sondern auch die Widerlegung der These, die Shoah sei nur anhand historischer Fakten erzählbar. Die Kritik war seinerzeit gespalten. Einerseits wurde das Buch als geschmacklos empfunden, weil es angeblich ein zu positives Licht auf das jüdisch-deutsche Zusammenleben vor dem Weltkrieg warf, andererseits lobte man Amichai, nicht der Versuchung erlegen zu sein, die Shoah „zum Fetisch zu machen“ [7]. Was die Shoah-Thematik angeht, blieb der „Würzburg-Roman“ in Amichais Dichtung ein Solitär. In der Lyrik finden sich kaum Shoah-Bezüge. Amichai verabscheute Lyriker, die sich mit diesem Thema in den Vordergrund spielen wollten und nannte sie shoanim miktzo´im, „professionelle Holocauster“ [7]. Man wird seinen Gedichten daher mit Shoa-Brillenblick nicht gerecht. Amichai-Lyrik ist eben keine Celan-Lyrik, und Amichais Geschichte ist nicht die Geschichte Celans. Amichais Gedichte schöpfen ihr Material und ihre Authentizität aus dem Selbsterlebten. Das manifestiert sich nicht nur in seiner biografischen Schreibtechnik, sondern auch in seiner Poetologie, deren Kerncredo es war, nur über Selbsterlebtes zu schreiben: Selbsterlebtes in der Liebe, im Leben, im Krieg. Die Shoah gehörte nicht dazu. Von den vier Kriegen, in denen Amichai kämpfte, suchte ihn vor allem der traumatisierende 1948er-Krieg zeitlebens in Erinnerungsflashbacks heim. Kein Wunder, dass er sich als dunkler Kontrapunkt bis ins lyrische Spätwerk eingebrannt und selbst die Liebeslyrik affiziert hat [2]:

Mein Mädchen, vorbei ist wieder ein Sommer […]
Komm und lass uns ein Liebesduell beginnen,
nur wir beide, Liebe machen vor dem Militärcamp.
Vielleicht ist´s noch möglich, alles zu wenden […]

Die Kriegserlebnisse ließen Amichai hellsichtige Anti-Kriegsgedichte schreiben, die ihn zu einem zeitlos gültigen Dichter der conditio humana machen. In „Herodion“ etwa, versucht er, ein Tertium Datur zur zweiwertigen Kriegslogik, zur Täter-Opfer-Dichotomie, zu finden. Doch das Tertium (Tote treffen sich als Abgesandte) scheint nur in Träumen möglich. Bleibt also für das Leben doch nur die Zweiteilung in Sieger und Besiegte, in Täter und Opfer? Nein, so simpel ist es nicht! Für Amichai gibt es ein dialektisches Drittes, in dem Täter- und Opferstatus ineinander übergehen, denn der Besiegte trägt auch die Farbe des Siegers (Täters) im Gesicht [1,5]:

Die Lebenden und die Toten treffen sich in meinen Träumen wie die Abgesandten zweier feindlicher Nationen
in einem dritten Land.
Mein Gesicht ist das Gesicht des Besiegten, gemalt in den Farben des Eroberers.

Man gewönne aber ein einseitiges Bild von Amichais Lyrik, würde man sie auf das Tragische festlegen. Amichai war sowohl persönlich, als auch poetisch ein Meister des Humors, der Selbstironie und der erotisch überschäumenden Fantasie. Vor allem in den USA und England wurde er, nachdem Ted Hughes ihn für Modern Poetry in Translation entdeckt hatte, als Lyriker mit erotischem Einschlag bekannt [5]. „Eine Exakte Dame“ [2] ist ein humorvolles Beispiel:

Eine exakte Dame mit Kurzhaarschnitt bringt Ordnung
in meine Gedanken und mein Schubladenchaos, eine Dame, die Gefühle umrangiert wie Mobiliar,
eine Dame mit Körperteilung, sorgfältig
in der Hüfte zwischen oben und unten getrennt,
eine Dame mit wetterprophezeienden Augen
aus bruchfestem Glas. Sogar ihr Lustgestöhn
folgt einer genau geordneten Sequenz:
Taube zahm, dann Taube wild, dann
Pfau, verwundeter Pfau, kreischender Pfau,
dann wieder wilde Taube, zahme Taube, Taube, Taube,
Singdrossel, Singdrossel, Singdrossel …

Die Kriegserlebnisse machten Amichai zu einem Dichter des Friedens. Seine durch Diaspora, Exil und multiple Liebesbeziehungen geprägte Persönlichkeit sowie seine empathiegetragene Einstellung, sich als Dichter in den Dienst der Benachteiligten, der Opfer, der zwischen den Malsteinen von Ideologien Zerriebenen zu stellen, machen ihn zu einem poetischen Existenzialisten.

 

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[1] Esperer HDA, Exil 2017.

[2] Esperer HD, K&N Würzburg 2018.

[3] Esperer HDA, Echter Würzburg 2018.

[4] Esperer HDA, Poetin 2019.

[5] Esperer HDA, Schrenk Röttenbach 2024.

[6] Gold N., Brandeis Univ. Press.

[7] Kronfeld H., Stanford Univ. Press 2016.

[8] Shaked G., Routledge 2019.