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Inventur. Eine Rede von Dagmar Leupold

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Dagmar Leupod spricht beim Protest gegen die BR-2-Programmreform. (c) Literaturportal Bayern

Der Bayerische Rundfunk will seine Info- und Kulturwelle Bayern 2 reformieren. Die geplante „Kulturoffensive“ auf Bayern 2 bedeutet, dass ab April 2024 alle bisherigen Kultursendungen entfallen und durch neue Formate ersetzt werden. Kritiker befürchten, der Kultur wird ihre eigene Stimme zur Primetime genommen, sie wird auf die hinteren Plätze verwiesen, die Vielfalt an Meinungen, Diskurs und Vertiefung wird deutlich reduziert. Bei einer neuerlichen Protestaktion vor dem Gebäude des Bayerischen Rundfunks in München hielt die Schriftstellerin Dagmar Leupold die folgende Rede.

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Ausgerechnet! Ausgerechnet jetzt, inmitten multipler Krisen, in denen offene demokratische Gesellschaften durch die Fliehkräfte schwerer sozialer Verwerfungen – flagranter Rechtsextremismus, Rassismus, Antisemitismus – in ihrem Kern und Gleichgewicht bedroht sind, ausgerechnet jetzt beschließt die ARD – Anstalt des regulierten Duckmäusertums?– das Schleifen einer der wertvollsten und wehrhaftesten Bastionen der Demokratie: das anspruchsvolle, wachsame, kritische und vielfältige zweite Radioprogramm des Bayerischen Rundfunks.

Ich bin Schriftstellerin, daher erlauben Sie mir, in einem Bild zu sprechen: Die für den BR geplanten „Reformen“ sind nicht nur abstrus und kontraproduktiv, sondern fahrlässig – so fahrlässig wie es die Abschaffung von Brandschutz und Rauchmeldern bei einer mit Gewissheit nahenden Feuersbrunst, beziehungsweise einem seit langem anhaltenden Schwelbrand mit gewaltigen Schadstoffemissionen wäre. Es geht nicht um Alarmierung, es geht um Wachsamkeit. Not täte folglich, die Zahl der Feuermelder zu erhöhen und, vor allem, die Brandprävention zu stärken. Bei den genannten Verwerfungen handelt es sich nicht um ein Virus, das von außen kommt und mit ein paar Sedierungspillen (Plauderfunk) und Placebos (Kulturoffensive) wirksam bekämpft werden kann. „One Size fits All“ – die Devise des Midcults, der sich bereits in der Literatur und Popmusik breitmacht –, diese Devise hält nun auch Einzug in die öffentlich-rechtlichen Programme. Bei Rechtsextremismus und anderen degenerativen Pathologien handelt es sich aber um eine Autoimmunerkrankung der Demokratie: ausgezehrt vom neoliberalen, allein dem Wettbewerbsgedanken verpflichteten Zeitgeist, der alle Bereiche durchdringt, kommt es in ihrem Inneren, dem Sozialen, zu einer folgenreichen Vereinzelung. Im Vordergrund stehen die Partikularinteressen, die eigene Vorteilswahrung. Dieser Zeit-Ungeist zersetzt den Zusammenhalt, er schadet politischen Allianzen jenseits identitärer und lobbyistischer Demarkationslinien, er torpediert die Vision eines Gemeinwohls und verordnet Kunst und Kultur als Schonkost. Gegen Autoimmunerkrankungen hilft jedoch allein, das geschwächte Immunsystem zu stärken – und wo wäre das wirksamer möglich als in dem allen Bürgerinnen und Bürgern zur Verfügung stehenden öffentlich-rechtlichen Medium Radio?

Worin besteht eine solche Stärkung? In einem breit gefächerten kulturellen Angebot, in kritischen fundierten Kommentaren zum Zeitgeschehen, im wachen, aufmerksamen Verfolgen der Entwicklungen in den Künsten. Nicht nur die Biodiversität ist bedroht, auch im Bereich von Kunst und Kultur ist ein Artensterben zu beobachten.

„Die Demokratie lebt von den aufrüttelnden Impulsen der Künste“, verkündete unsere Kulturstaatsministerin Claudia Roth kurz nach ihrem Amtsantritt. Wohl wahr – aber diese aufrüttelnden Impulse brauchen, um als Korrektiv wirken zu können, eine Öffentlichkeit, eine Agora: auf allen Frequenzen.

Möge dieselbe Vernunft und Sorge, die sich den eindrucksvollen Demonstrationen gegen zerstörerische antidemokratische Strömungen seit einigen Wochen zeigen, auch in den Entscheidungsgremien der ARD walten und obsiegen! Erste (frühlingshafte?) Anzeichen gibt es. Dann verdiente das Kürzel eine neue Übersetzung: Aktion zur Resilienzstärkung der Demokratie.

Abschließend aus gegebenem Anlass eine kurze Liste ausgewählter Objekte bei Lost & Found. Ich beginne mit den Fundsachen, unliebsamen Fundsachen. Juristen haben für dergleichen den schönen Begriff der „ungerechtfertigten Bereicherung“. Die Fundsachen sind, trotz der Mühen der Bereitstellung, unentgeltlich und möglichst prompt abzuholen und sachgerecht zu entsorgen.

Stepper, niederschwellig, auch für Untrainierte. Kann auch zur Größenkorrektur verwendet werden.

Generationengerechtigkeit, Lineal aus recyceltem Plastik

Holzweg, nicht trittsicher                                                                              

Changemaker, lustig-buntes Harlekinkostüm inkl. Narrenkappe, Größe XXL

Mainstream, Schal, putzwasserfarben aus synthetischen Materialien, Gebrauchsspuren

Offensive, Rasierwasser

Wellenchef, Haarspray, gegenwindfest

Regional, Ruhekissen in Retrooptik (blau-weiß)

Monokultur, Grasteppich aus Kunstfaser mit hoher Versiegelungskapazität

Re-Casting, Hundeleine, ausziehbar auf maximal 1m

 

Die Verlustanzeigen:

Kultur, ganzjährig blühende Pflanze, winterhart, im Spätsommer aus dem öffentlichen Raum entwendet

Weltläufigkeit, Weltkugelschreiber, gestochen scharfe Schrift, vielfarbig

Vielfalt, eine handgefertigte Patchworkdecke, materialecht

Hintergrund, LED-Leuchte, ideale Leselampe

Vertiefung, Sehhilfe, Glasschliff Weitsicht

 

Finderlohn: Ein gutes Radioprogramm!