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Dankesrede von Dagmar Leupold zur Verleihung des Literaturpreises der Stadt München 2023

Seit 35 Jahren veröffentlicht Dagmar Leupold Gedichte, Romane und Essays. Damit ist sie zu einer wichtigen Stimme der deutschen Gegenwartsliteratur geworden. Am 10. Juli 2023 wurde ihr der Literaturpreis der Stadt München überreicht. Das Literaturportal Bayern druckt im Folgenden die Dankesrede von Dagmar Leupold ab. Mit freundlicher Genehmigung der Autorin. 

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Lieber Niels, lieber Alois Mühlbacher, sehr geehrter Herr Biebl, liebe Freundinnen und Freunde, cari amici, meine sehr verehrten Damen und Herren (Stadträte etc.),

(Dank an Niels)

meine Freude über die Zuerkennung des Literaturpreises der Stadt München ist groß – ich bedanke mich von Herzen für diese Ehrung und die damit verbundene schöne Festigung meiner Beziehung zum Lebens- und Arbeitsort. Noch nie habe ich – eher nomadisch veranlagt – so lang in einer Stadt gelebt wie in München, seit nun mehr als dreißig Jahren. Zur Schriftstellerin bin ich hier geworden, im lebendigen Austausch mit Kollegen und Kolleginnen, die zu Freunden wurden und im lebendigen Kontakt zu den Orten, die sich der Literatur verschrieben haben: darunter dieser wunderbare, in dem wir uns heute versammeln. Aber auch andere, weniger einschlägige oder nicht-physische wie das Kulturjournal des BR2 oder das Literaturportal Bayern, das anspruchsvolle literarische Programm der Münchner Volkshochschule oder die Bayerische Akademie des Schreibens wurden zu Heimatorten, Orten also mit vertrautem Zungenschlag.

Dank ist mit Gedanke wortgeschichtlich verwandt, daher gestatten Sie mir ein paar Gedanken zu dieser Stadt, die zur Freude einer hoffnungslos an Italien Verlorenen als dessen nördlichste gilt – ich bitte, mir das viel zitierte Klischee nachzusehen! Gedanken in Gestalt eines kleinen Streifzugs durchs eigene Werk, in dem Bayern, München und mein „Kiez“, Neuhausen, immer wieder Schauplatz sind. Wir beginnen mit einer Hommage an den allen Neuhausern bekannten Gemüse- und Obststand an der Nymphenburger Straße, an dem auch die Protagonistin des Romans Unter der Hand, Minna, einkaufen geht:

Der lustige, drahtige Italiener bedient mich und kommentiert jede Bestellung mit der Bemerkung, dass sei gut für die Liebe – er verkauft anscheinend ausschließlich Aphrodisiaka. Ich spiele mit. Sein bayerischer Kollege erklärt einer anderen Kundin, dass sie zwei Bund Radieserl nehmen soll, den ersten zu Hause essen, den zweiten zur Bestechung auf der Wies’n nutzen, damit ihr jemand einen Platz freihält. Ach, Bayern, du weiß-blaues Wunder, hier gehen alle Rechnungen auf. Ich kaufe ebenfalls einen Bund Radieserl, als Einsatz für künftige Wetten, als Chip für die Glücksspirale oder einfach nur, weil es immer wieder alarmierend hübsch aussieht, wenn unter der roten Schale das gleißende Weiß zum Vorschein kommt. Die reine Unvernunft, diese gottgegebene, sinnlose Schönheit des Radieschens. [...] Hier, beim Gemüsehändler, der aus Freising dreimal die Woche anreist und alle Kunden duzt, findet a) lebendige Demokratie statt und ist b) die Welt so überschaubar wie die Kreuzung, an welcher der Georg, der Schorsch – so heißt er – Gurken, Sellerie und Gewissheit verkauft: Am nächsten Dienstag komme ich wieder, woaßt scho‘. Kann sein, dass Luxemburg kollabiert, Vulkane explodieren, die nächsten Landtagswahlen ausgeschlafen überstanden werden und die Inkubationszeit für kommende Schrecken beginnt: Er wird da sein. Und ich werde die Wahl haben zwischen sauberen Kartoffeln und dreckerten. Komplizierter wird es nicht.

Ein kurzer Abstecher zu einem anderen München, aus demselben Roman. Minna lebt prekär, hat mehrere Jobs, darunter Haus hüten in Bogenhausen für ein kosmopolitisches Ehepaar mit einem jährlichen Flugmeilenkonto, dessen Saldo dem mehrfachen Erdumfang entspricht. Minna nennt sie die d'Annunzios:

Bei den d'Annunzios sortiere ich die Post, öffne die Fenster, gieße die Blumen und wische den Staub von kiloschweren Bildbänden, die auf dem Couchtisch liegen. Seit ich für die d’Annunzios arbeite – seit über einem Jahr –, liegen die Bücher in unveränderter Anordnung: Ein Bildband ist aufgeschlagen, drei sind gestapelt, zwei liegen nebeneinander. Unter der Lampe, auf einem kleinen runden Sockel, ein ledernes Notizbuch mit eingeklemmtem Bleistift. Saß je jemand hier, blätterte in den Bänden und schrieb seine Gedanken nieder zu „Indigenous Art“ oder „Das Licht bei Sebastiano Piombo“ oder zu „Hyperrealismus. Der Fotograf Jeff Wall“? Mein Verdacht ist, dass die ausgewählten Bände mit den Farben des Teppichs und der Vorhänge harmonieren und dann im Regal verschwinden werden und anderen Platz machen, wenn sich die Hausherren für ein neues Design entscheiden. [...] Immerhin sind es keine Attrappen. Ich wische auch Staub auf der Papaya und der Mango, die ich wie immer vor der Rückkehr der Besitzer eingekauft habe, und lege sie in die Obstschale aus Bambusholz, sie glänzen wie Reliquien. Möglicherweise hat mich die Signora [...] für den heiklen Job des Housesittings ausgesucht, weil ich nie nachgefragt habe, warum diese beiden Früchte als Willkommensgruß in der Obstschale liegen müssen, wenn die übernächtigten, von weltumspannenden Flügen zurückkehrenden Hausherren das mehrfach gesicherte Haustürschloss mit dezentem Klicken entriegeln und die Räume wieder in Besitz nehmen.

Und wie reagiert Herr Harald, der Held aus der Operngarderobe, dem Ort der großbürgerlichen Selbstdarstellung, auf das leuchtende und auf das hochglanzpolierte München? (Denn es stand Pate für die im Roman nicht näher benannte Stadt) So:

Herr Harald geht zum Schrank und entnimmt ein Hemd, das er das „besondere“ nennt. Denn es hat besondere Knöpfe, die schimmern, als ob sie aus Perlmutt wären. „Als ob“. Wie reich beschenkt einen die kleine, schlaue Wendung „als ob“. Denn die Freude an denen wie Perlmutt schimmernden Knöpfen ist ja echt [...]. Und ebenso das Gefühl der Freiheit, teure Einkäufe oder großzügige Gönner für Hemdenspenden nicht zu brauchen. Mit einem tiefen Atemzug befördert er die Freude bis in die untersten Lungenspitzen, da sitzen die Verteidigungszellen, die Schädliches abweisen. Er ist sicher, dass die Lunge die Verbindung zum Herzen herstellt und pflegt.

Herr Harald hätte noch das Gehirn anführen können, das ebenso wie die Lunge einen direkten Draht zum Herzen haben sollte – und umgekehrt. Denn nur wenn Nachdenken und Mitfühlen auf derselben Frequenz senden, ist Leitungsfähigkeit gegeben. Reflektion, Emotion und Austausch – denn zu nichts anderem verhilft uns die Lungenatmung – sind vitale Stichworte für den zweiten großen Dank, den ich hier aussprechen möchte. Er gilt dem Lebensstoff Literatur – denn mehr noch als Autorin bin ich Leserin. Genauer gesagt: Autorin und Leserin in einem. Schreiben ohne Lesen? Unvorstellbar! Es gibt das viel beschworene weiße Blatt nicht, vielmehr überschreiben wir stets Vor-Schriften, die sich im Kontakt mit den Fingerspitzen beleben, erneut erklingen, sich re-formieren, mit der eigenen Stimme verschmelzen und neue, andere Töne anschlagen. Das Schreiben selbst mag ein einsames Geschäft sein, die Literatur ist es nicht. Sie ist vielmehr chorisch, vielstimmig, in den Untertönen geistern – gar nicht gespenstisch – die Stimmen der anderen. Und die der Toten, auch sie unsere Verwandten. Im 2009 erschienenen Briefroman Die Helligkeit der Nacht, ein Gespräch zwischen zwei Toten, Heinrich von Kleist und Ulrike Meinhof, stellt HK – die Chiffre steht für „meinen“ Kleist – beim Lauschen eines Orgelkonzerts folgende Überlegung an:

Und ich fragte mich, welche Art von An- und dann Abwesenheit die Töne hätten, die den Pfeifen entwichen – es lässt sich erklären, was mit dem Schall passiert, selbstredend, dennoch blieb die Vorstellung reizvoll, sie wären noch da, nur unhörbar. Somit würde ununterscheidbar, ob es an der Ferne liegt, dass wir sie nicht mehr hören oder an der verstrichenen Zeit. Nun verfeinern und steigern wir unsere Wahrnehmung mittels der Einbildungskraft derart, dass wir sie wieder hören, die Musik und die Seufzer anderer Räume, den Blutrausch anderer Zeiten.

Dieses Mithören und Mitschreiben ist für mich keine Frage der Entscheidung, sondern eines wunderbaren, zuverlässig eintretenden Metabolismus': Im entstehenden Text wird das Vorgelagerte, das fremde, andere, von außen Kommende aufgenommen und mit dem Eigenen – analog zu den Enzymen – verbunden und verarbeitet. So entsteht Eigensinniges, anstelle von Kostümiertem, versehen mit der Signatur der eigenen Zeit und Zeitgenossenschaft.

Freilich vollzieht sich dieser Stoffwechsel nicht allein im Kontakt mit bereits erklungenen literarischen Stimmen oder anderen Artefakten, sondern auch in der gesellschaftspolitischen Realität des Hier und Jetzt. Kunstgenese findet nicht in der Retorte, unter sterilen, aseptischen Bedingungen statt, ihr Entstehungsort liegt vielmehr inmitten der Gesellschaft, über die wir, lesend und zuschauend, Kraft dieser konstitutiven „Kontamination“ etwas erfahren. In diesem Sinn ist Kunst, ist Literatur genuin politisch. Was heißt das? Bedeutet es, dass Literatur sich grundsätzlich der brisanten, gesellschaftspolitisch relevanten Themen annehmen muss, die in aktuellen Diskursen aufscheinen? Ja und nein. Literatur ist keine „Illustrationsagentur“ (ich leihe mir diesen wunderbaren Begriff von Peter von Matt aus), ein literarischer Text ist vielmehr ein „leidenschaftliches Ereignis“ (weitere Leihgabe desselben), welches sich gegen Diktate, ideologische und formale Gängelei verwahrt und sperrt. Wie die Metapher des Stoffwechsels nahelegt, handelt es sich beim Schreibprozess nicht um einen schlichten Transfer (von mir aufs Blatt Papier), sondern um eine komplexe Transformation, bewerkstelligt von Vorstellungskraft, intellektueller Durchdringung und genauer, kritischer Spracharbeit. Fiktion hat neuerdings einen schlechten Leumund, fällt beinahe unter „Fake“-Verdacht – dabei ist sie, die Einbildungskraft, unentbehrlich für den Prozess formaler und sprachlicher Anverwandlung und Überführung subjektiver Erfahrung in eine „parabolische Dimension“ – Olga Tokarczuks Begriff in ihrer eindrucksvollen Nobelpreisrede Der zärtliche Erzähler.

Es sind also weniger die Themen, die eine Literatur als politische ausweisen, als ihr Vermögen, die historischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten, Verwerfungen und Widersprüche einer Epoche in komplexen Figuren – Lessing findet dafür den schönen Begriff „gemischte Charaktere“ – und in der erzählten Welt zu sedimentieren. Die in jüngerer Zeit verstärkt zu beobachtende instrumentelle Einvernahme (nicht nur) der Literatur als Stichwortverarbeitungsmaschine führt zu einem Branding selbst der Themen und Inhalte, die zweifellos von gesellschaftspolitischer Relevanz sind; zur Marke geworden aber an Brisanz einbüßen, Accessoire werden. Das ist nur folgerichtig bei einer Industrie, die auf Errichtung von Geschmacksmonopolen abzielt und auf Erfassbarkeit durch Algorithmen setzt. Die Reaktion darauf muss Dissidenz sein, Einspruch und Eigensinn – der Markt und seine Quotenpolitik sind, was das Bedrohungspotential für die Artenvielfalt angeht, durchaus ideologie-äquivalent. Ein weiteres Bedrohungspotential ist politisch-globaler Natur und sorgt für eine gewaltige Fehlrotation unseres Globus‘: das Ausmaß und Unmaß der Verwerfungen, die komplexen Ursachen aller Konflikte und Kriege verbieten das Aufsagen frommer Wünsche und wohlfeiler Ratschläge aus dem sicheren Off. Gleichwohl sollten Kunst- und Kulturschaffende die Erosion der Demokratie, die Zunahme autokratischer Regimes, die wachsende Bereitschaft zu struktureller Gewaltanwendung als Mittel der Machterhaltung nicht einfach schweigend hinnehmen. Die Kunst kann die Welt nicht retten, nein, aber interkulturelle, intellektuelle und künstlerische Allianzen jenseits von Demarkationslinien hätten die Potenz, den eng gefassten Begriff der Intersektionalität zu weiten: nämlich als Bündnis der Vernunft, der Kritik und des Austauschs. Dafür sollten wir unsere Netzwerke und Kommunikationskanäle nutzen, Verena Noltes „Eine Brücke aus Papier“ ist ein gelungenes Beispiel für ein solches Engagement. Wir sollten daran festhalten, auch wenn es die Öffentlichkeit längst nicht mehr gibt, sondern lediglich zahlreiche fragmentierte, in Partikularinteressen aufgesplitterte. Defätismus, so viel steht fest, hilft niemandem.

Umso wichtiger, umso notwendiger sind deshalb Engagement und Hartnäckigkeit aller zu Beginn genannten Kulturschaffenden, Wegbereiter und Institutionen. Kunst ist nicht kleinzukriegen, Literatur nicht mundtot zu machen – weder durch Einhegung im Sinne einer Identitätspolitik, noch durch Auto-Complete-Mechanismen, die die Ausgestaltung übernehmen. Noch durch Zensur. Aber sie braucht Komplizen.

Zuletzt doch noch ein frommer Wunsch: Würde sich in den kommenden Jahren auch noch in der Bildungs- und Schulpolitik etwas bewegen und endlich den musischen Fächern die ihnen gebührende Hauptrolle in der (Persönlichkeits-)Bildung zuerkannt – es wäre gut. Nichts stärkt das Selbstbewusstsein und das Kritikvermögen so sehr wie die Erfahrung, sich als Gestaltender und als Gestaltende zu erleben. Wer selbst gestaltet, wägt die Einflüsterungen von Souffleuren aller Couleur souverän ab, statt ihnen, unerkannt, zu erliegen. Kritik, sagt Foucault, ist die Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden. Wer liest, schaut, zuhört – also mit bereits Gestaltetem umgeht –, macht Erfahrungen weit über den eng gesteckten zeitlichen und räumlichen Horizont des eigenen Lebens hinaus. Ein kleines Wunder, das wir gut hüten und immer wieder erlebbar machen sollten.

Am Ende dieser laut gedachten Gedanken bin ich wieder beim Anfang: beim Dank. Dank für die Anerkennung, für die Unterstützung und für die Ermutigung weiterzumachen.

Andiamo avanti!